Wer braucht schon Fortschritt?

Es geht bei IT-Neuerungen weniger um echten Fortschritt, als vielmehr ums Geschäft. Wenn sich eine Sache gut verkauft, dann lässt sich die Wirtschaft von keiner wissenschaftlichen Expertise beirren.

Viele Bürger haben dieses Jahr einen Brief vom Finanzamt bekommen, dass sie künftig ihre (Vor)steuererklärung online via Elster zu erledigen haben. Mac-Usern „ist zuzumuten“, so das Finanzamt in Missachtung jeglicher IT-Kultur, dass sie sich für mehrere hundert Euro einen PC-Emulator und auch noch ein Windows-Betriebssystem zulegen. Rücksichtsloser kann der Fortschritt nicht erzwungen werden. Doch Widerspruch gibt es kaum, schließlich hat die IT-Industrie die Behörden längst in das Investment für E-Goverment gedrängt.

Dabei investiert Vater Staat schon seit Jahren große Summen in Informationstechnik: Anstandslos hat sich die Bevölkerung daran gewöhnt, dass man im Kampf gegen den weltweiten Terrorismus, eine Rasterfahndung über sich zu ergehen lassen hat. Zu diesem Zweck kommen modernste Data-Warehousing-Techniken zum Einsatz. Es sind im Grund dieselben Techniken, mit denen Kaufhäuser die intimsten Einkaufsgewohnheiten ihrer Kunden ausspähen. Schade nur, dass man den Terroristen nicht für einen Preisnachlass von einem halben Prozent eine Kundenkarte in die Hand drücken kann, damit diese ihre Dossiers bei jedem Einkauf selbst aktualisieren.

Überhaupt geht es nicht wirklich um Fortschritt, sondern um Geschäft. Wenn sich eine Sache gut verkauft, dann lässt sich die Wirtschaft von keiner wissenschaftlichen Expertise beirren. So ist längst bekannt, dass Handys das Gehirn erhitzen und Menschen in der Nähe von Sendemasten häufiger erkranken. Gegen solche Erkenntnisse helfen Gegengutachten. Schwieriger ist es schon, Statistiken zu widersprechen, wonach inzwischen mehr Autofahrer wegen Telefonierens als wegen übermäßigen Alkoholgenusses verunglücken. Heuchlerisch hebt die Werbung stattdessen hervor, dass ein Handy Leben retten kann, wenn bei Unfällen auf dem Lande der Notarzt informiert werden kann. In einen statistisch wahrnehmbaren Bereich kommt die Wahrscheinlichkeit für solche Notfälle allerdings nur dadurch, dass immer mehr Wagemutige unvorbereitet aber mit einem Handy ausgerüstet in die Berge steigen – und so sich und die meist freiwilligen Retter gefährden. Aber wen schert schon die Gesundheit der User oder die Unfallstatistik, wenn man demnächst für gutes Geld das Tor der Heimmannschaft live aufs Handy-Display schicken kann. Da freut sich der Fußballfan im Auto und wirft die Arme zur La-Ola-Welle hoch.

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